April
Kaśka Bryla

 
April I, Leipzig
Ich höre abwechselnd Nachrichten aus Deutschland, Polen und Österreich. Oftmals nach dem Zufallsprinzip zappe ich durch verschiedene Radiosender und lande Sonntagmorgen auf einem polnischen, als gerade ein Priester interviewt wird. Wahrscheinlich wäre mir das auf fünf anderen polnischen Sendern auch passiert. Der Priester ermutigt die Menschen in diesen Zeiten, innere Einkehr zu halten, sich zu sammeln und sich neu zu überdenken – also die Krise als Chance wahrzunehmen –, und während ich ihm zuhöre, frage ich mich, ob er selbst die Zeit auch nutzt. Ob vielleicht die katholische Kirche ihre Hetze gegen Lesben, Schwule, Trans- und Intersexpersonen sowie Feminist*innen während der Pandemie auch überdenkt und geläutert aus dieser Krise hervorgeht. Danach berichtet der Priester von einer Spendenkampagne für ein Krankenhaus. Es soll genug Geld zusammenkommen, um ein Beatmungsgerät zu kaufen. Eins!
In Deutschland warten die noch leeren Intensivbetten auf den Ansturm. Aber es wird mit großer Sorge über die diesjährige Spargelernte gesprochen. Wo doch jetzt die polnischen Saisonarbeiter*innen abgezogen sind …
Wenn ich keine Nachrichten höre, arbeite ich, im Moment an einem Essay. Er reflektiert die Entwicklung von Kooperation innerhalb des Literaturbetriebs anhand des altbewährten Gefangenendilemmas. Für die Illustration des Gefangenendilemmas wird der Fall zweier Akteur*innen, die eines gemeinsamen Verbrechens beschuldigt werden, herangezogen. Sie werden getrennt voneinander verhört und wissen nicht, was die/der jeweils andere aussagt. Gestehen beide, erhalten beide eine hohe Strafe, aber nicht die Höchststrafe. Gesteht jedoch nur eine/r, geht diese/r straffrei aus, während die/der andere die Höchststrafe bekommt. Wenn keine/r gesteht, sie also miteinander kooperieren, oder anders ausgedrückt, sich aufeinander verlassen, machen sie in der Summe den größten Gewinn, bekommen zusammen die niedrigste Anzahl von Jahren im Gefängnis.
Im klassischen Gefangendilemma ist es für beide Akteur*innen die dominante Strategie zu defektieren, also die Zusammenarbeit miteinander abzulehnen. Das bedeutet, dass Defektion für jede/n Einzelne/n vorteilhafter ist als Kooperation, egal was die/der andere tut. Wenn allerdings wirklich beide defektieren, erzielen sie damit den minimalen Gewinn. Dieses Dilemma versuche ich, auf „das Prosa-Debüt“ im Literaturbetrieb anzuwenden.
Dazwischen werde ich abgelenkt. Ich höre, wie jemand aus meinem Wohnkollektiv meint, er finde es krass, dass Polen die Grenzen dicht gemacht hat. Man könne nicht einmal mehr durchreisen. Ich entgegne, dass es bei dem Gesundheitssystem, das Polen habe, die logische Konsequenz sei. Gäbe es ein überregionales europäisches Gesundheitssystem, ließen sich die Grenzziehungen während einer Pandemie anders verhandeln. Noch etwas unbeholfen rücke ich meinen Mundschutz zurecht. Mein Smartphone vibriert.
Eine Freundin schreibt aufgeregt von der Sea-Watch 3: „Die Alan Kurdi hat heute um die 150 Menschen aus Seenot gerettet!”
„Wie cool!”, antworte ich und kann nicht anders, als gleichzeitig an das Camp in Moria auf Lesbos zu denken, in dem seit 2015 Geflüchtete darauf warten, auf die Mitgliedstaaten der EU verteilt zu werden, und mich gleichzeitig zu fragen, was in Folge aus den 150 geretteten Menschen der Alan Kurdi werden wird. Wo sie leben werden. Im jetzigen Stadium der europäischen Kooperation oder Defektion.

April II, Leipzig
„Hast du dein Ei bereit?“, fragt meine Mutter am Telefon. Ich schaue auf meinen Teller und sehe, dass ich das Ei im Laufe des Gespräches schon gegessen habe. In Polen teilt man traditionellerweise am Ostersonntag zum Frühstück ein (geweihtes) Ei miteinander.
„Bereit“, antworte ich und stecke mir eine Olive in den Mund.

„Dreihundert Meter“, erzählt meine Schwester ebenfalls aus Warschau (anderer Stadtteil als meine Mutter) am Telefon, „gerade weit genug, um zum nächsten Supermarkt und zur nächsten Apotheke zu kommen.“ Das Kleinkind meines Mitbewohners läuft an mir vorbei. „Ei!, Ei!“, ruft es und hält das hart gekochte bunte Ei hoch. Ich winke.
Langsam sei es mühsam, keine Freunde zu treffen. Selbst mit ihrem Mann müsse sie auf der Straße zwei Meter Abstand halten, erzählt meine Schwester weiter. Das finde sie doch übertrieben.
Während des Gesprächs scrolle ich die Twitter-Meldungen von Sea-Eye durch. Die rund 150 Personen sind noch immer an Bord der Alan Kurdi. Das ist jetzt schon eine Woche her.
„Anstrengend“, pflichte ich meiner Schwester bei.
„Aber du wohnst ja mit so vielen Menschen zusammen“, sagt sie. Etwas, das mir in normalen Zeiten selten als Vorteil ausgelegt wird.

In Leipzig bekomme ich die Ausgangsbeschränkung tatsächlich kaum zu spüren. Einerseits liegt das an dem Stadtteil, in dem ich lebe. Connewitz. Der direkt angrenzende Wald ist knallvoll wie im Hochsommer. Zwei Meter Abstand hält niemand ein. Vereinzelt läuft jemand mit einem Mundschutz herum. Das ist aber wirklich die Ausnahme. Auch beim Bäcker sieht mich die alte Frau, die einen halben Meter hinter mir steht und mir in den Rücken hustet, verwundert an, als ich mich umdrehe und sie bemerkt, dass ich den Schal über die Nase gezogen habe. Andererseits würde ich mit meinen braunen Stirnfransen und der weißen Haut auch außerhalb des erlaubten 15-Kilometer-Radius gar nicht erst kontrolliert werden.

„Hier erwarten wir den Peak Ende April“, sagt meine Schwester.
Ich scrolle durch meine Mails. Eine Kollegin aus Wien schreibt mir, dass sie sich als jemand aus der Risikogruppe manchmal furchtbar schlecht fühle, weil wegen ihr „die Jungen“ ihr Leben so sehr einschränken müssen. So weit ist es also gekommen, dass sich die sogenannte „Risikogruppe“ schlecht fühlt, und ich denke an meine Mutter, die seit ihrem 65. Lebensjahr darauf besteht, keine lebensverlängernden Maßnahmen durchführen lassen zu wollen. „Ich soll das dann entscheiden?“, frage ich immer. „Natürlich“, sagt sie. Und füllt selbstverständlich keine Patient*innenverfügung aus. Allerdings habe ich auch noch nie angeboten, ihr dabei zu helfen. So selbstlos bin ich schlichtweg nicht. Ich möchte ja, dass sie ewig lebt. Schließlich gehört sie zu jenen, die am längsten in dieses Gesundheitssystem eingezahlt haben, also warum soll bei ihr im hohen Alter nicht um jedes weitere Jahr, auch wenn es nur eins ist, gekämpft werden. Außerdem wird mir bei der dystopischen Vorstellung von einer Gesellschaft mit lauter jungen, gesunden Menschen einfach übel. Wer will denn das?

„Nächstes Jahr feiern wir wieder zusammen“, sage ich zu meiner Schwester und zu meiner Mutter „Wir hören uns später.“
Inzwischen telefonieren wir zwei Mal am Tag. So viele Gespräche, Telefonate, Skype-, Zoom- und Jitsi-Dates wie seit dieser Krise hatte ich gefühlt das gesamte Jahr 2019 nicht.
Das Wetter macht den Ostersonntag zu einem der schönsten, an die ich mich erinnere. Über 20 Grad. Überall Knospen und kleine grüne Blätter. Ich schmiere mir Sonnencreme ins Gesicht.

April III, Leipzig
„Logisch“, antworte ich, als mich Olivia fragt, ob ich sie morgen in die Corona-Ambulanz fahre.
„Und die Überweisung? Holst du die auf dem Weg zu mir ab?“
„Sowieso“, bestätige ich. Wir haben denselben Hausarzt und ich möchte mir ohnehin einen Termin für ein großes Blutbild geben lassen. Ein bisschen neugierig auf diese Corona-Ambulanz bin ich auch. Niemand weiß, wo sie ist. Irgendwo am Stadtrand, wird gemunkelt.
Das Wartezimmer des Hausarztes ist fast leer. Die, die da sind, sehen recht fit aus. Um das Pult der Sprechstundenhilfe ist eine Wand aus Plexiglas gespannt.
„Ich bin wegen der Überweisung für Olivia hier“, verkünde ich.
Die Sprechstundenhilfe sieht mich entgeistert an. „Da kommen Sie rein?“ Meine Einweghandschuhe und der Schal beeindrucken sie kein bisschen.
„Äh?“
„Sie hätten anrufen können! Dann hätte ich Ihnen die Überweisung hinausgebracht.“
Ihre Strenge schüchtert mich ein. Warum machen diesen Job immer Frauen? Die wenigen Wartenden sehen mich vorwurfsvoll an. Zumindest glaube ich das.
„Die ist aber doch nicht für mich!“ Ich stehe im Eingangsbereich in Vollmontur. Zwischen uns doch eine Scheibe aus Plexiglas.
„Aber für Ihre Freundin“, argumentiert sie.
„Die habe ich zuletzt vor vier Wochen gesehen.“ Plötzlich schaut sie nicht mehr ganz so streng. Mich in Sicherheit wiegend, füge ich hinzu: „Und einen Termin für ein Blutbild will ich machen.“
Corona ist das neue AIDS, denke ich und unterschlage den Lungenfunktionstest, den ich ebenfalls machen wollte. Auch den Antikörper-Test erwähne ich besser nicht. Oder, dass ich, als ich glaubte, den Virus zu haben, nicht hergekommen war. Theoretisch könnte ja jede und jeder in diesem Wartezimmer Covid-19 haben.
„Das ist keine gute Zeit!“, antwortet sie, wieder ganz die alte.
Ich sehe mich noch einmal im Wartezimmer um, als hätte ich mich vorher verzählt. Fünf Menschen. „Nicht?“
„Sie bringen Ihre Freundin ja jetzt in die Corona-Ambulanz.“
Ich überlege, wer Olivia denn sonst hinbringen soll. Eltern sind raus – zu alt. Mitbewohnerin hat kein Auto. Für öffentliche Verkehrsmittel ist sie zu schwach. Und die Taxifahrerin möchte ich sehen, die sie mit „zur Corona-Ambulanz, bitte“ einsteigen lässt. „Da brauchen Sie gar nicht zurückkommen“, sagt die Sprechstundenhilfe.
„Äh?“, mache ich wieder. Und weil ich noch immer so dastehe und sie ansehe, sagt sie schließlich: „Außer der Test ist negativ. Dann schauen wir wegen dem Blutbild.“

Die Corona-Ambulanz ist ein Container am Ende der Welt. Erst muss man durch eine Schranke. In einem Wachhäuschen sitzt ein Mann. Im Fenster hängt ein Zettel: Nur mit gültiger Überweisung. Olivia fächelt mit der Überweisung. Aber er kommt eh nicht raus, um die Gültigkeit zu überprüfen. Winkt uns durch. Überall sind Schilder aufgestellt. CORONA-Ambulanz. Als würde man einer Apokalypse entgegensteuern. Auf den letzten Metern fahren wir an zwei Menschen vorbei, die den Weg zu Fuß zurücklegen. Ein ganz schöner Spaziergang für jemanden, die oder der krank ist. Dann endlich der Container. Davor ein leerer Parcours aus Eisengittern. Ich überlege, wo ich parken soll, und bleibe einfach mitten auf der Straße stehen. Während ich auf Olivia warte, tuckert ein volles Polizeiauto vorbei. Sie sehen mich an. Es gibt ja sonst nichts. Aber wer wird sich hier schon über Halten und Parken streiten?

„Und, und?“, frage ich, sobald sie wieder im Auto sitzt.
„Drei Menschen in Ganzkörperschutz haben meine Daten aufgenommen. Den Abstrich. Bis Montag bekomme ich Bescheid, sollte er positiv sein. Sonst nicht.“
„Aha“, sage ich und starte das Auto.