Văleleu
Iosif C. Holzer

„Poursuivis par nos origines, nous le sommes tous.“
E. M. Cioran

 

Wir haben die Karpaten hinter uns gelassen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe keine Bäume mehr, keine Serpentinen, keine Schluchten und keine Gebirgsbäche mehr, nur noch das flache Land, das sich vor uns hinstreckt. Bald erreichen wir die ungarische Grenze, hat mein Vater gesagt und Mutter hat nichts geantwortet.
Im Auto ist es kalt. Draußen geht langsam die Sonne unter, aber noch brechen einige Sonnenstrahlen durch die Wolken. Es sieht aus, als ob Scheinwerfer die Felder in weiter Ferne beleuchten.
„Weißt du eigentlich, dass du Geburtstag hast, wenn wir ankommen?“, fragt mein Vater.
Er dreht sich um und schaut mich an. Ich versuche zu lächeln und schweige. Mutter schaltet das Radio an.
Ich lege mich auf die Rückbank, ziehe die Knie zur Brust und schließe meine Augen.

*

Die Tomaten vor meinen Augen sind fast reif. Ich würde gerne in sie reinbeißen und fühlen, wie der frische Saft meine Mundwinkel hinunter läuft. Trebuie să mai așteptăm, hat meine Großmutter gesagt. Wir müssen uns nur noch ein wenig gedulden, dann können wir sie pflücken.
Die Sonne überflutet alles. Sie brennt auf die Tomatensträucher, auf meiner rosigen Haut und sich für immer tief in mein Gedächtnis ein. Die Sträucher umzingeln mich und ragen hoch über meinen Kopf hinaus. Großmutter wird mich niemals in den Tomaten vermuten.
Unter meinen schwitzigen Füßen klebt Erde, neugierige Ameisen krabbeln auf meinen Beinen. Ich sitze still, lasse mich kitzeln und kämpfe gegen das Lachen an. Meine zusammengepressten Zähne sind ein Gefängnis. Sie sperren das Lachen ein, damit es mein Versteck nicht verraten kann.
Unser dreckiges Geschirr steht noch immer auf dem Tisch. Facem mai târziu, hat Großmutter gesagt, machen wir später, kein Grund zur Eile, machen wir später und sie setzte sich in den Sessel, schaltete den Fernseher an und das schwarzweiße Bild fing an zu flimmern. Ich setzte mich neben sie auf den Boden und lauerte auf meine Chance. Ich musste nicht lange warten. Ihr Kinn fiel ihr auf die Brust. Da schlich ich leise aus dem Haus.
Die Ameisen haben das Interesse an mir verloren und marschieren davon. Aus dem Haus höre ich den Fernseher. Ein Paar streitet sich, dann ein lauter Schuss aus einer Pistole.
Ein Windhauch treibt mir den Geruch vom Plumpsklo in die Nase und aus dem Stall erklingt ein Lied aus Grunzen und Gackern. Die Schweine singen ein Loblied auf unsere Essensreste und die Hühner trauern um ihre gestohlenen Eier. Aber der Hahn hat genug von ihrem Gejammer und kräht aus seiner heiseren Kehle. Er will sie zur Ruhe ermahnen. Doch der Hahn hat nichts zu melden, seine Frauen jammern nur umso lauter.
Die Stimmen aus dem Fernseher verstummen. Endlich höre ich Bewegungen im Haus. Gleich wird sie es merken.
„Iosif?“, ruft meine Großmutter drinnen, „unde ești, Iosif?“, sie öffnet die Tür, „Văleleu! Văleleu! Iosif!“, das Schleifen ihrer Hausschuhe kommt immer näher.
Ich umarme meine Knie und warte gespannt.

*

Die Sonne spiegelt sich auf der Wasseroberfläche. Wenn ich auf den Fluss schaue, muss ich die Augen zu kleinen Schlitzen zusammenziehen. Großvater bereitet unsere Angeln vor. Ich sitze neben ihm auf dem Boden, schaue ihm aufmerksam zu. Wir haben unsere Hemden ausgezogen, weil wir schwitzen und Großvater scheint es überhaupt nichts auszumachen, dass sein Oberkörper nackt ist. Er schiebt seine Unterlippe nach vorn und versucht mit seinen dicken Fingern die feine Angelschnur durch die Ringe zu ziehen. Sein großer Bauch ist braun gebrannt, neben ihm sehe ich aus wie ein Glas Milch. Wenn Opa einen Schluck aus seiner Bierflasche nimmt, nehme ich einen Schluck aus meiner Saftflasche. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schließe die Augen, genau wie er. Ich weiß, dass Opa viel lieber Țuică trinken will. Țuică ist durchsichtig, riecht nach Medizin und schmeckt ihm besser. Aber Großmutter hat mit ihm geschimpft. Ich saß hinter dem Vorhang unter der Spüle und habe mitgehört.
„Măi, omule! Bist du verrückt? Bier darfst du haben, aber der Schnaps bleibt hier. Wenn du ins Wasser fällst … Văleleu! Oder wenn Iosif ins Wasser fällt … Văleleu!“, und sie spuckte drei Mal aus, um das Unglück nicht zu beschwören.
„Măi, Iosif, wo schaust du hin? Sieh doch her!“
In der einen Hand hält er einen dicken Wurm. Er wurmt sich hin und her und versucht sich zu befreien. In der anderen Hand hält Großvater einen goldenen Haken. Ich schaue genau hin.
„Sieh her. Du packst den Wurm am Kopf, so. Und es ist wichtig, dass du nur zweimal durchstichst, siehst du, so. Dann bleibt das ganze Schwanzende frei und kann sich unter Wasser schön bewegen. Das macht die Fische verrückt.“
Das weiß ich eigentlich alles schon. Er hat es mir schon oft erklärt. Im Fluss gibt es eine große Strömung und man braucht viel Blei, damit der Wurm am Grund liegen bleibt, denn am Grund sind die Fische und suchen nach Futter.
„Diese hier ist bereit“, sagt er und reicht mir eine Angel, „oder soll ich auswerfen?“
„Nein, ich.“
Ich gehe ans Ufer und berühre mit meinen Zehen das warme Wasser. Großvater beobachtet mich. Ich führe die Angel ruhig über meine Schulter, so wie er es mir beigebracht hat, schaue nach hinten und schieße dann ruckartig die Angel nach vorne. Das Blei fliegt durch die Luft und landet mit einem dumpfen Schlag im Wasser.
„Foarte bine!“, Großvater hebt die Bierflasche in die Luft, „das war ein Meisterwurf.“
Ich spanne die Schnur, lege die Rute auf den Ständer und lächele vor mich hin. Mein Gesicht ist heiß. An der Spitze meiner Angel befestige ich ein kleines Glöckchen. Wenn ein Fisch beißt, wird es klingeln. Dann muss ich blitzschnell reagieren.
Ich setze mich auf den warmen Boden, umschlinge meine Knie und warte konzentriert.

*

Draußen brennt die Sonne. Die Luft ist so heiß, dass ich sie kaum atmen kann. Wir sind ins kühle Haus geflüchtet und Großmutter sitzt mir gegenüber am runden Esstisch. Ihr Gesicht ist faltiger als letztes Jahr. Zwischen uns steht ein Teller mit Keksen und eine Kanne Milch.
„Mein kleiner Iosif“, sagt sie und legt ihre Hand auf meine, „du brauchst keine Angst zu haben. Du bist schon groß geworden.“
„Aber ich hab doch gar keine Angst.“
„Das ist sehr gut von dir. Freust du dich denn, dass du bald nach Deutschland fährst?“
Ich presse meine Lippen zusammen, entscheide mich zu nicken. Ohne dass ich es will, beginnt das Muster auf der Tischdecke zu verschwimmen. Mein Gesicht glüht. Ich laufe um den Tisch und werfe meinen Kopf in Großmutters Schoß. Die Tränen platzen heraus und machen ihre Schürze nass.
„Wenn ich groß bin, komme ich wieder! Dann komme ich mit meinem eigenen Auto. Du musst dann nie wieder zu Fuß zum Markt gehen und die schweren Tüten schleppen. Und ich kaufe dir einen Farbfernseher!“
„Ja, das wirst du machen, mein Kleiner“, sie streicht mir durch die Haare, „willst du nicht noch ein Glas Milch?“
Ich nicke.
Ich setze mich zurück auf meinen Platz und trinke einen ganz kleinen Schluck. Ich muss sparsam sein. Großmutter starrt auf den bunten Wandteppich und bekommt diesen leeren Blick, den sie jetzt immer bekommt, wenn sie an Großvater denkt.
Von ihm habe ich mich letzten Winter verabschiedet. Er ist von uns gegangen, sagte meine Mutter, als wir ins Auto stiegen. Die ganze Familie kam aus den Städten zu Großmutter aufs Land gefahren, um sich von ihm zu verabschieden. Die Frauen weinten fürchterlich. Mutter schimpfte, dass Opa den Țuică so sehr mochte und das Angeln und die unfähigen Ärzte verfluchte sie gleich mit. Irgendwann ermahnte mein Vater alle zur Ruhe. Er warf eine Bierflasche gegen die Wand. Aber mein Vater hatte nichts zu melden, die Frauen jammerten nur umso lauter.
Großmutter verlässt die Küche. Ich schleiche mich mit dem fast vollen Glas Milch aus dem Haus, vorbei an den Tomatensträuchern nach vorne zum großen Tor und öffne leise die Tür. Fast lasse ich das Glas fallen, als ich sehe, dass sich eine Krähe vorsichtig dem Unterschlupf der Katzen nähert. Die Krähen fressen das Futter weg und verjagen die Katzen. Manchmal dauert es Tage, bis sie sich zurück in ihren Karton trauen.
Ich stelle das Milchglas ab, mache einen Sprung auf die Krähe zu und kreise wie wild mit meinen Armen, aber die Krähe hüpft bloß ein paar Schritte nach hinten, legt den Kopf schief und schaut mich verwundert an. Ich gehe noch näher auf sie zu und trete mit voller Wucht nach ihr, als wäre sie ein Fußball. Da gibt sie sich geschlagen, fliegt hoch und setzt sich auf einen Ast, beobachtet mich misstrauisch von oben herab.
Ich knie mich vor den Karton, in den ich mit einem Messer eine Tür und zwei Fenster geschnitten habe. Zwei kleine Katzen schauen mich durch die Tür an.
„Ich gehe bald weg“, sage ich, drücke mit dem Handrücken vorsichtig ihre Köpfchen beiseite und gieße die Milch in die Schüssel. Sofort fangen sie an zu trinken und tun so, als ob sie mich überhaupt nicht gehört haben. Ich setze mich neben den Karton, halte meine Knie umspannt und lasse die Krähe nicht mehr aus den Augen.
Wenn Großvater von hier weggehen konnte, dann kann ich das auch.