Halleluja Berlin
Fabian Schwitter

 

Lange Zeit bin ich viel Strassenbahn gefahren, um in Ruhe zu lesen. Die Strecken sind verhältnismässig kurz. Sie führen von der einen Seite der Stadt zur andern. Dann kommt eine kleine Schlaufe am Ende der Strecke, alle müssen aussteigen, auch wenn sie weiterfahren wollen (in manchen Städten ist das aus Versicherungsgründen so): Die Strassenbahn dreht einen Kreis und fährt zurück. Strassenbahnen fahren immer vorwärts, kennen nur eine Richtung. Strassenbahnen verlassen die Stadt auf ihrem verkümmerten Unendlichkeitszeichen kaum. Ich lebe jetzt also in little Berlin, Leipzig. Ich schreibe besser von der Peripherie her. Das ist bekannt.

Als ich gegen 18 Uhr beim Hauptbahnhof ausstieg, überquerte ich die Strasse, betrat die Bahnhofshalle und kaufte mir ein Bier. Es war die Zeit dazu, die Stimmung. Ein gekühltes Bier trotz winterlicher Witterung, saugrauem Nebel. Auf dem Rückweg zur Strassenbahnstation sprach mich beim Bahnhofausgang ein junger Mann an, hielt mir ein Buch unter die Nase. Taschenbuch, dünn. Drogen, Sex, Alkohol … Lebensgeschichten zur Illustration der menschlichen Sündhaftigkeit: mit der Moral, dass sich Sündhaftigkeit natürlich nicht lohnt. Kehrt um! Als wären Strassenbahnen nicht auf Kreisbahnen verpflichtet. Als gäbe es da eine Heilsgeschichte. Er sei von der Brüdergemeinde, dabei suche ich Schwestern, seit längerer Zeit schon. Ich hielt ihm meinen Katholizismus entgegen. Fast schien er Analphabet genug, um den Katholizismus nicht zu kennen. Umso besser für die Verkäufer von Erweckungserlebnissen. Ich hielt ihm meinen Katholizismus entgegen und ging weiter. Ich glaube nichts: weiter.

Es war schweinekalt. Die Finger um die Bierdose gekrallt halfen mir alle Durchhalteparolen nichts. Und auf Männlichkeitsbeweise gebe ich schon länger nicht mehr viel. Die Zigarette konnte ich kaum zwischen den nackten Fingern halten. Ich hielt es nicht aus, keine fünf Minuten, stieg wahllos in die nächst beste Strassenbahn, begann wieder zu lesen: „Ich muss immer lachen über deutsche Lehnwörter im Tschechischen. Zum Beispiel »pinktlich«. Das ist ein tschechisches Wort, das aus dem Deutschen kommt. Es bedeutet alles, was unsympathisch und abstoβend und typisch deutsch ist: Es bedeutet pedantisch, unflexibel, unsensibel, auf gnadenlose Weise gründlich, selbstgerecht, mit preuβischer Disziplin – da sagt man auf Tschechisch, wenn jemand so ist, er ist pinktlich.“ (Robert Menasse: Die Hauptstadt)

Die Strassenbahn – Linie 16 – fuhr natürlich in die falsche Richtung, südwärts. Das hatte ich ja gewusst und hatte mir der Kälte wegen trotzdem nicht anders helfen können, als einfach einzusteigen. So stieg ich nach drei Stationen wieder aus: Rossplatz. Es kam kein Auto, es war kalt und mir egal, dass das Ampelmännchen einen roten Hut aufhatte. Ich war guter Laune, leicht manisch vielleicht – etwas übertrieben euphorisch, grundlos. Wenn eine Strassenbahn einmal aus der Schiene springt, kommt sie nie mehr wieder. Ich ging über die Strasse, durch den Schneematsch im beissenden Wind. Dass es im März noch so kalt sein konnte. Rot, es sei rot. – Jaja. – Ich ging weiter, das kannte ich doch schon, war nicht das erste Mal. Dann drehte ich mich doch um, in einem Anflug von Kontaktfreudigkeit, von Menschlichkeit, von Verständigungswillen. Ob sie mir das erklären wolle, fragte ich die Frau in meinem Alter. Neinnein, wehrte sie ab. Aber sie habe ein kleines Kind. Das verpflichtet sie sozusagen, andere zurechtzuweisen, setzte ich ihren Gedankengang im Stillen fort. Ich auch, erwiderte ich stattdessen. Dann sei ich aber ein schlechtes Vorbild. Mir blieb nichts hinzuzufügen. Das Ampelmännchen war mittlerweile grün, sie verschwand regelkonform auf die andere Strassenseite. Hatte ich eine solche Schwester gesucht?

Ich schrie in die Leipziger Dämmerung hinaus: Pinktlich. Pinktlichkeit und Vorbildlichkeit. Und dann wieder bei Rot über die nächste Strasse, direkt auf die Strassenbahnschienen und dann in Richtung Haltstelle Wilhelm-Leuschner-Platz, der Strassenbahn entgegen. Wir haben viel zu lang geschlafen, ritten mir Fetzen durchs Hirn. Narzissen und Kakteen. Ich schlürfte mein Bier, ich rauchte eine Zigarette. Ich verstehe Hölderlin nun besser. Die deutsche Prinzipientreue und das mediterrane Leben aus dem ersten Böhlendorfbrief: „Deswegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das Fremde sich anzueignen. Bei uns ists umgekehrt.“

Ich will keine Typen ausstellen. Keine Klischees. Ich gebe mir alle Mühe, ein unpünktlicher Schweizer zu sein. Aber dass man so was nicht einmal zu erfinden braucht, dass man so was einfach so erzählen kann …